Viele Menschen, die ich kennengelernt habe – und ehrlich gesagt, gehöre ich auch manchmal dazu -, wollen schwere, traurige und schmerzhafte Empfindungen lieber aus ihrem Spektrum der Gefühle ausblenden. Wir würden eben lieber fröhlich und lustig sein, das Leben genießen, unbeschwert in den Tag hinein leben, als sich mit Sorgen und Nöten zu befassen. Manchmal stellen sich die Fragen:
Kann das Leben nicht ganz einfach sein? Warum soll man es sich schwer machen?
Also liegt die Versuchung nahe, das Schwere, Traurige, scheinbar Unlösbare in eine Kiste zu packen und möglichst weit unten im Keller oder in den unerreichbaren Sphären des Speichers zu verstauen. Wenn wir Experten sind, schaffen wir es sogar, das Vorhandensein dieser Kisten (fast ganz) zu vergessen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich zähle bald zu den lebenserfahreneren Jahrgängen und stelle fest, dass ich schon ganz viele Kisten wiedergefunden habe, leider zu Zeitpunkten, an denen dies für mich sehr überraschend und unangenehm war. Auch in der Begleitung von Trauernden muss ich immer wieder feststellen, dass sich in einer akuten Krise die sogenannten „Altlasten“ dann noch zusätzlich zeigen. Darüber hinaus bedeutet es einen großen Kraftaufwand, Kisten, die sich öffnen wollen, geschlossen zu halten. Meist ist es so, dass unbearbeitete „Geschichten“ wie in einem Dampfkessel eine Art Eigendynamik entwickeln können. Je länger wir versuchen, den Deckel zu verschließen, desto stärker wird der Druck, so lange bis eine explosionsartige Entladung erfolgt. Vielleicht mögen Sie sich Ihren Sicherheitsgurt im Auto vorstellen: Haben Sie schon einmal ganz schnell, heftig und ungeduldig daran gezogen? Bei mir rastet er dann ein und bleibt starr stecken. Sie können noch so heftig daran ziehen, er bleibt in dieser Position, richtig? Um Lockerung und Nachgiebigkeit zu erreichen, müssen Sie den Gurt genau in die Ursprungsrichtung führen, damit er sich lösen kann. Wenn sie dann vorsichtig und behutsam ziehen, kann er in die von Ihnen gewünschte Richtung gebracht werden. Das heißt: Zuwendung zum vermeintlichen Übel kann Entspannung bringen.
Anna zum Beispiel hatte mit immer wiederkehrenden Wutausbrüchen zu kämpfen: Sobald einer ihrer Mitarbeiter etwas vergessen hatte, unachtsam oder unpünktlich war, saß Anna auf der Palme und konnte sich kaum mehr beruhigen. Immer öfter geschah es, dass sie unfreundlich, grantig und beleidigend wurde, im Extremfall verletzend und aufbrausend. Hatten die Kollegen zunächst noch Verständnis, wurde das Getuschel im Laufe der Zeit immer schlimmer. Auch Anna litt sehr darunter, denn sie schämte sich für ihre Unbeherrschtheit. Wie konnte sie diese unkontrollierten Wutanfälle verhindern? Wir stellten fest, dass die innere Wut sich eine Weile im Zaum halten ließ, so lange, bis der bekannte Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt. Anna begann, sich jeden Tag fünf Minuten Zeit für ihre Wut zu nehmen und zu fragen, wozu diese ihr dient. Sie stellte fest, dass die Wut die Reaktion auf die unerträgliche Ohnmacht war, die sie in Hinblick auf Davids Tod empfand. Die Wut mobilisierte Energie, die sie für das Alltagsleben benötigte. Also konnte Anna Sinn entdecken und Dankbarkeit für diese Emotion entwickeln. In gleichem Maße beruhigte sich die Situation und die Wogen glätteten sich. So ist es auch mit allen anderen Emotionen: Je mehr wir uns für sie interessieren, uns ihnen zuwenden, ihre Botschaft erfassen, desto leichter ist es, mit Ihnen umzugehen und umso weniger müssen sie sich in den Vordergrund spielen.
Genauso, wie es wichtig ist, unsere Emotionen zu integrieren, um Entspannung zu erfahren, sollten wir auch unsere Mitmenschen, die gerade eine schwere Zeit haben, in unsere Mitte lassen. Viele Trauernde berichten, dass sie sich wie fremde Wesen fühlen. Mir selbst ist es passiert, dass Menschen in meinem Ort die Straßenseite gewechselt haben. Rita berichtete:
„Meine Kollegen haben mein Arbeitszimmer kaum noch betreten und mich auch sonst gemieden wie eine Aussätzige. Selbst mein Seniorpartner ist mir aus dem Weg gegangen, obwohl wir in all den Jahren ein sehr gutes und vertrauensvolles Arbeitsverhältnis hatten. Arbeitsunterlagen wurden mir wortlos oder in meiner Abwesenheit auf den Tisch gelegt. Es hat kaum jemand mit mir gesprochen, mich oft nicht einmal angeschaut.“
Das fühlt sich sehr schlimm und traurig an. Betroffene fragen sich: „Habe ich den Aussatz?“ „Was ist falsch mit mir?“ „ Bin ich nicht gestraft genug?“ Vermutlich entsteht dieser Ausschluss aus der „normalen“ Gesellschaft aus Angst und Unbeholfenheit: „Was sage ich bloß?“ „Ich will ja niemandem wehtun!“ Das Gegenteil ist der Fall: Ignorieren, Totschweigen, Isolieren ist für jeden sehr schmerzhaft, umso mehr für seelisch stark belastete Menschen. Gerade sie benötigen Integration ins Team, in die Arbeitswelt, ins normale Leben.
Über eine lange Zeit ist es für Betroffene wichtig, ehrliches Interesse zu spüren. Sowohl die Mitarbeiter, die Vorgesetzten des Trauernden, als auch der Trauernde selbst benötigen genug Platz und Raum zur Wahrnehmung aller Gefühle und Bedürfnisse. Nur so ist gewährleistet, dass für alle Beteiligten gute, ausbalancierte Lösungen gefunden werden können. Je regelmäßiger und offener dieses Interesse sich selbst und anderen gegenüber geäußert wird, desto besser und nachhaltiger ist die Integration und damit die Verarbeitung des belastenden Ereignisses möglich. Dies ist die Basis für einen guten Neubeginn.
Aus meinem Buch: „Wenn Kollegen trauern“ (Kösel 2016)