Was bedeutet eigentlich “Handlungsfähig in der Krise: stabil bleiben, Wohl finden?“ Im letzten Artikel hatte ich schon erläutert, was Krise bedeutet, und ich möchte anhand eines aktuellen Beispiels erläutern, wie sich Krise, Trauer und Trauma im Nervensystem auswirken und wie wir hinausfinden
Neulich sprach ich mit einer Frau am Krisentelefon. Sie hatte in der Vergangenheit schwere Verluste, Trauer, auch Traumatisches erlebt. Sie hatte sich inzwischen ein gutes Netz an psychosozialer Unterstützung aufgebaut, doch durch die Abstandsregelungen war nun ihr gesamtes Stabilisierungsnetz aus den Fugen geraten. Ihre Therapeutin war nur online zu sprechen, Freunde konnten nur telefonisch kontaktiert werden, der übliche Tagesablauf ist komplett durcheinandergeraten, die Tagesstruktur für sie nur schwer aufrecht zu halten, in der Wohnung empfand sie zunehmend Enge und Unwohlsein. Auslöser für Panik und Hilflosigkeit war dann eine abweisende Sprechstundenhilfe, die ihr keine Möglichkeit zubilligen wollte, wegen akuter Beschwerden einen zeitnahen Telefontermin mit ihrer Hausärztin zu vereinbaren. Die lebenstüchtige Frau, die schon so viel in ihrem Leben gemeistert hatte, war durch das unachtsame und unfreundliche Verhalten der Arzthelferin in große Aufregung und gleichzeitig in einen Zustand von ohnmächtiger Hilflosigkeit verfallen, aus dem sie keinen Ausweg wusste.
Was passiert in der Krise mit unseren Nerven?
Dazu möchte ich noch einmal das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus (= ventraler Vagus und dorsaler Vagus) als Teil unseres autonomen Nervensystems zeigen:
Wir können den Überblick bewahren, klar denken und alle unsere Ressourcen nutzen, wenn unser Nervensystem überwiegend im grünen Bereich (ventraler Vagus) aktiviert ist, bzw. sehr nah daran bewegt, wenn der Sympathikus (gelb) nur wenig aktiviert ist, der dorsale Vagus (blau) nur schwach angesprungen ist.
Geraten wir sehr in die Aufregung, sodass der Sympathikus sehr stark aktiviert wird, verlieren wir den Überblick, oft entsteht ungesteuerte, wenig zielgerichtete Überaktivität.
Die Anruferin am Krisentelefon konnte in ihrer Aufregung zunächst gar nicht erläutern, was eigentlich ihr Problem ist und wobei sie Unterstützung benötigte. Sie erzählte unzusammenhängend in aufgeregtem Tonfall, was ihr alles widerfahren war. Viel Angst war zu spüren.
Zwischendurch verfiel sie in Mutlosigkeit und Hoffnungslosigkeit, man konnte durch den Telefonhörer spüren, an der weinerlichen Stimme hören, wie die Schultern, das Kinn und der Kopf sich senkten. Bezüglich des Nervensystems bedeutet dies, dass auch der dorsale Vagus aktiv ist, also auch ein Abdriften oder Pendeln in den blauen Bereich zu beobachten war.
Wie können wir handlungsfähig werden in der Krise, bei Trauer, Trauma, seelischen Verletzungen?
Ziel aller Bemühungen, sowohl in der akuten Krisenintervention, als auch in der längerfristigen Betreuung, muss es also sein, das Nervensystem in die Aktivierung des ventralen Vagus zu manövrieren. Dort, wo Denken, Handeln, Fühlen und Körpersensationen gemeinsam wahrgenommen werden und unser Gehirn mit allen Arealen funktionieren kann.
Zunächst ist es wichtig, ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, um die Alarmstimmung im Nervensystem bei Reaktivierung von seelischen Verletzungen, Trauer und Trauma zu reduzieren.
Im Telefongespräch darf die Stimme möglichst tief, sanft und ruhig werden. Mit allen Signalen, wie ruhigem Atem, einfacher Wortwahl und modulierender Stimme darf allen Beteiligten signalisiert werden: Jetzt ist soweit alles OK, momentan ist es sicher. Vertrauen und Sicherheitsgefühl entstehen, indem empathisch zugehört wird, Verständnis für die jeweilige Situation gezeigt wird. Im Telefonat hatte die Anruferin viel Zeit, von ihren Sorgen und Nöten zu berichten. Viele bestätigende Worte und Wiederholung dessen, was sie besonders zu bedrücken schien, ließen sie langsam ruhiger werden, die Worte und Gedanken konnten sich verlangsamen – der Sympathikus konnte wieder herunterfahren. Nach einiger Zeit war es möglich, nach dem ursprünglichen Anlass für den Anruf zu fragen.
Je mehr Ruhe und Ordnung wieder in die Erzählung kam, desto mehr wurde es möglich, sich auf eigene Fähigkeiten und Möglichkeiten der Unterstützung von Außen zu fokussieren. So wurde es auch möglich, die Tendenzen hin zu Aufgeben und Handlungsunfähigkeit (dorsaler Vagus) zu mildern, da die eigenen Stärken wieder ins Bewußtsein kamen. Das Nervensystem konnte wieder mehr im ventralen Vagus agieren, der Blick auf Kraftquellen und Ressourcen wurde wieder möglich, Handlungsfähigkeit und Lösungsorientierung erreicht.
Das Nervensystem als Bedürfnisbarometer
Krisenmodus ist entweder ein stark aktivierter Sympathikus, der zur Übererregung führt, oder ein überreizter dorsaler Vagus, der zu Untererregung und damit zum Abschalten, Taubheit, Ohnmachtsempfinden führt, im Extremfall zur Dissoziation.
Stabilisierung gelingt durch Stimulierung des ventralen Vagus, der den Sympathikus bremst und die betäubende Wirkung des dorsalen Vagus aufhebt.
Das Bedürfnisbarometer des Nervensystems zeigt auf, welche Maßnahmen zur Stabilisierung in der Krise hilfreich sind:
Ventraler Vagus: Was hilft, da zu bleiben?
- Spaziergang an der frischen Luft, Bewegung in der Natur
- Zeit allein
- Bewusste Atmung, das Zwerchfell entspannen
- Angenehme Getränke
- Lieblingsmusik
- Kochen, gutes Essen
- Hobbies
- Haustiere
- Freunde, vertraute Personen
- eine Umarmung
- wohlwollende Stimmen
- Freizeit in Gesellschaft
Sympathikus, Übererregung: Bedürfnisse um „runter zu kommen“:
- Energie ablassen: schneller Sport: laufen, radeln, heiß und kalt duschen, fluchen und schimpfen, wenn man allein ist, Körpertraining, raus an die frische Luft, laute Musik, tanzen und schütteln, kraftvolle körperliche Arbeit (Holz hacken), PowerYoga
- Beruhigung: Atem tiefer und langsamer werden lassen, Imaginationen, Hand aufs Herz, den Puls langsamer werden lassen, angenehme Düfte, die Gedanken ablenken, beruhigende Musik, YinYoga, Meditation, Fokussierung auf eine Herausforderung
- Bei Freunden oder Vertrauten Dampf ablassen, schimpfen dürfen, ohne korrigiert zu werden, ein offenes Ohr finden, Bestätigung für den Ärger erfahren.
Dorsaler Vagus, Untererregung: Bedürfnisse zur Aufrichtung:
- Geborgenheit, Sicherheitsgefühl aktivieren:
- ausruhen, evtl. schlafen
- den Tränen, der Traurigkeit Raum geben
- Bewegung in der Natur
- heiße Getränke, warmes Bad
- menschliche Wärme und Zuwendung, zuhören, Sorgen teilen können
- Gemeinschaft, Zugehörigkeit erleben
- sanfte Aktivierung, Körperwahrnehmung,
- Veränderung erleben: Achtsamkeit, Selbstwirksamkeit
- Bewegung in der Natur
- aktivierende und fokussierende Atemübungen
- Yoga, Meditation, QiGong, Massagen, Sauna, etc.
Krisenprävention ist tägliches Vagustraining!
Die beste Krisenprävention ist ein stetiges Training, die Bedürfnisse des Nervensystems in guten Zeiten zu erkunden und die Stimulierung des ventralen Vagus täglich zu üben.
Deshalb üben Sie täglich Selbstsorge. Suchen Sie jeden Tag nach Möglichkeiten, für Ihr Wohlbefinden zu sorgen:
Am Morgen: Was kann mich heute zum Lächeln bringen?
Mittags: Wie kann ich mir oder anderen eine kleine Freude bereiten und das Herz erwärmen?
Am Abend: Wofür kann ich heute dankbar sein? Was ist mir heute gut gelungen?
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Wohlstand, Wohlsein, Wohlbefinden!